Reisefiebr

Veröffentlicht in European Photography #104 - Dezember 2018

 

Fotografen im Reisefieber: Die sechs hier vorgestellten Bildbände sind voller Abenteuer. Ein Fotograf fällt vom Himmel, es gibt eine Italienreise, Genießer des Ländlichen und des Urbanen, Migrationshintergrund und einen Trip ins Jenseits.

 

Ein genialer Sprung durch Raum und Zeit: Michael Najjar dokumentiert ferne Planeten, obwohl er gar nicht dort ist. Hartes Training verlangt er sich ab. Der Fotograf turnt in Astronautenmontur durch Windkanäle, springt aus 10.000 Metern Höhe vom Himmel, wagt sich in Zentrifugen und erfährt die Wissenschaft hautnah in Analyse und Ekstase.

 

Als Adept des Medientheoretikers Vilém Flusser praktiziert er dessen Kunst des Komputierens durch Projektion: An den visuell gewordenen Einbildungskräften läßt er die humanen Visionen bezüglich ihrer Machbarkeit testen. Najjar will Science Fiction als Realität und der erste Fotograf im Weltall sein.

 

Der Band Outer Space zeigt die Vorbereitungen. Seit Jahren dokumentiert Najjar Raketenstarts wie in Zuckerwatte. Er taucht in tiefes Wasser zum Modell der ISS und absolviert mit schwerer Sauerstoffflasche Trainings in Schwerelosigkeit. Der Mond scheint durch die Luke.

 

Hybride Fantasien verknüpfen das Irdische mit dem Interstellaren: Dank wissenschaftlicher Beobachtungen illustriert Najjar die gigantische Masse an Weltraumschrott, der um die Erde kreist. Und der erste private Weltraumflughafen der Erde, in der Wüste von New Mexico vom Architekten Lord Norman Foster entwickelt, wirkt wie auf einem fernen Planeten.

 

Najjar spielt gerne die Hauptrolle in seinen großformatigen Bildern. Ob Landschaften viele Lichtjahre entfernt oder Selfies bei doppelter Schallgeschwindigkeit, Najjar belegt, daß der Fotograf auf Extremreise ein Hellseher sein kann.

 

Claude Nori fährt lieber in den Urlaub: Vor der Jahrtausendwende besuchte er in Erinnerung an seine Jugendferien italienische Strandorte. Ihm gelangen fotografische Flirts en masse und sein Werk Italian Holidays ist ein pralles Buch der Freude.

 

Der Badehosenreport bietet Entspannung pur. Den selbstbewußten Blicken der jungen Menschen wohnt eine gesellschaftliche Ruhe inne, die es so kaum mehr gibt. Knuffige Mädels im Bikini und noch nicht erwachsene Machos genießen das Dasein und loten die Liebe des Sommers aus. Kein Handy vibriert.

 

Nori gelingt ein Retro-Festival: In wunderbarem Postkartenpigment der 80er Jahre hört man Sommerhits aus der Jukebox, Vespas knattern, das Wasser ist sauber und das Eis lecker. Die familiäre und gesellige Freizügigkeit zeugt von der Unschuld als Lebensziel.

 

John S. Webb mag es ruhiger. Er liebt Spaziergänge. In sonniger Schwarzweißfotografie feiert der Band Terraform die Perspektive als Abenteuer. Webb entdeckt in Naturräumen Zusammenhänge zum Urbanen und dem Städtischen entlockt er naturidentische Poesie. Ob Meer an Stahl, Holzpfahl vor Hochhaus oder Poller in der Pampa, Webb ist dialogisch unterwegs und analysiert diabolische Kräfte.

 

Viel Zement wurde weltweit verbaut. Schon frisch gegossen wirkt er ruinenhaft. Webb macht deutlich, daß sich Natur und Stadt wider den Zwang zur Symbiose verhalten wie Wasser und Öl. Denn während Beton ewige Monster hinterläßt, ist die Natur stets kraftvoll und frisch. Gegen das Menschgemachte hat sie dennoch keine Change.

 

Die Landschaft als Krimi in einer Realität voller Sarkasmus: Webb sucht und findet die historische Logik der Urbanisierung. Zäune und gebrechliche Brücken, die zauberhaft in der Landschaft stehen, erweisen das menschliche Tun in der Natur als banal. Die Weisheit der Aufnahmen ist verblüffend. Obwohl man Menschen nie sieht, der Mensch ist einfach überall.

 

Andreas Gehrke war unterwegs in Brandenburg. Die ostdeutsche Region um Berlin ist bekannt für Waldseen und Landflucht. Wunderbare Weiten auf Sand mit Kiefern und Disteln. Gehrke geht wie ein Landschaftsmaler vor. Er verharrt so lange in der Natur, bis sie mit ihm spricht.

 

Mit allen Sinnen ist er vor Ort, Birkenblätter rascheln. Alte Sagen kommen in Erinnerung. Während Theodor Fontane die Landschaft in grellen Bildern beschrieb, wirken bei Gehrke selbst Farbaufnahmen wie verzaubertes Schwarzweiss. Brandenburg ist Nebelland. Gehrke kontrastiert die innere Stille der Landschaft mit Melancholie.

 

Schlichte Natur in simpler Schönheit. Gehrke fängt Erinnerung ein und Geschichte: Die Landschaft ist gezähmte Sachlichkeit. Bewohnbare Gebäude wirken verlassen, in den Auen und Fluren aber sind Ackerbau und Forstwirtschaft prägend. Man riecht die Gülle im Tümpel. Gehrke erinnert daran, daß die Landschaft uralt ist und einst eins mit sich selbst war. Bis der Mensch kam.

 

Harmlose Busch-Ensembles und Idyllen am Wasser: Man verharrt, wird mit den Bildern eins. Sie sind wie Urlaub. Überall tolle Zeltplätze! Und am Morgen aufwachen mit ein paar Ameisen im Sand, sonst nichts. Was will man mehr im Leben als dort sein und das Dasein reflektieren.

 

Migranten, die im Süden Europas unter Palmen ankommen, können den Charme des Mediterranen in der Regel nicht genießen. Michael Danner spürte ihnen nach. Wie ein Detektiv auf Spurensuche beobachtet er die Ankünftsorte aus den Augen der Ankömmlinge.

 

Ödnis im sterilen Wartesaal, in der Unterkunft viel Leonlicht und Feldwege, die in die Finsternis führen. An einem Computer klebt der Zettel "Intelligence Officer". Stacheldraht durchdringt Danner wie mit einem Röntgengerät. Satellitenbilder von Flüchtlingscamps verdrängen den allgemeinen Kontrollverlust. Eine fesche Polizistin, ein posierender Kapitän und der nette Herr vom Grenzübergang.

 

Bürokratie prägt den Alltag der Migrantenabwicklung. Den Wahrnehmungsirritationen der Fremden folgend sind in Danners Band Migration as Avant-Garde Fotografien radikal angeschnitten. Bisweilen geriet Schmutz auf die Linse und die Farbkorrektur lief Amok. Das Meer ist blutrot. Auch mal golden wie das glitzernde Wärmealu.

 

Die fotografischen Psychofilter korrespondieren mit Angstzuständen. Historische Exilfotografien und Texte von Hannah Ahrendt schlagen einen historischen Bogen. Flüchtling sein kommt in Danners Analyse einer avantgardistischen und mahnenden Vorreiterrolle gleich: Nur wer die Mühlen von Bürokratie und Zurechtweisung besteht, hat Aussicht auf Zukunft.

 

In Continental Drift portraitiert das Künstlerduo Onorato und Krebs das Jenseits. Die beiden waren in der Mongolei unterwegs und brachten verstörende, meist farbfreie Bilder mit. Grobkörnig festgehaltene Gebirgszüge, bracchiale Trabantensiedlungen, Viehzucht und Götzen. Es gibt da noch Esel!

 

Zementmischer und Leuchtbänder an Gebäuden zeugen von Fortschritt, doch erinnern an den Anfang der Menschheit. Uriges Land, urtümlich und so groß, daß politische Strukturen kaum denkbar sind. Der Band treibt einen Keil ins Selbstverständnis der Globalisierung, denn das Nomadenland wirkt wie ein blinder Fleck auf Erden.

 

Wie zum Teufel geriet das Schaf in die Stromleitung!? Onorato und Krebs fahren kulturelle Fallen auf: Sperrige Formationen eigentümlichen Materials sind in die Landschaft gewürfelt und gigantische Handwerkszeuge überragen wie Tempel die Täler. Diese Mystik folgt einer Spache, die in der westlichen Welt nicht mehr verstanden wird. Der Betrachter gerät in Angst und Panik.

 

Die geklont anmutenden Gebirge sind schroff, ein lustiges Almleben ist nicht vorstellbar. So abseitig das Dasein aber wirkt, dem Archaischen entspringt ein wunderbarer Segen von Heimat und Gastfreundschaft: Onorato und Krebs waren in einem der letzten Paradiese auf Erden. Der Band dokumentiert das Unterbewußtsein der Menschheit und kann als Zivilisationsvision überall auf Erden und sogar auf weit entfernten Planeten Hoffnung für die Zukunft geben.