Die Moralfalle

 

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Die Moralfalle - Bernd Stegemann - 2018 - Matthes & Seitz - 205 Seiten

 

Alle in der Falle. Bernd Stegemanns Reflektion über die Tendenz hin zu gespaltenen Gesellschaften infolge der Ersetzung von Dialektik durch Moral (36f) ist eine treffliche Beschreibung der Gegenwart.

 

Dialektik, das Aufdröseln auseinanderliegender Sichtweisen, ist eine hohe Kunst der Realitätsbewältigung. Man hat ein Thema und streitet. Marx fand die Entfremdung und die Unterdrückung der Arbeiter in den Fabriken schlimm, die Kapitalisten dagegen fanden das toll. Es gab Zoff. Und Aufstände. Adorno erweiterte die dialektische Tiefenschäfe um die psychologische Komponente und zeigte, dass die Entfremdung mittlerweile im Denken verankert ist (111) und dass die dialektischen Streitparameter nicht mehr in altgriechischer Pracht zur Geltung kommen.

 

Dann kam die Postmoderne mit der großen Befreiung durch Multikulti, Individualismus und Völkerfreundschaft. Doch selbst stammtischähnliche Einheiten verloren sich bald in Beliebigkeit. In der 90ern rieb man sich noch diskursiv an Weltbildern, doch spätestens seit 9/11 herrscht ein bracchialer Krieg im gesellschaftlichen Innenraum: Die Zerstörung des World Trade Centers geriet - Gratulation an die Islamisten - zur Zerstörung der westlichen Welt. Seitdem ist Hass auf alles Andersgeartete postfaschistischer Alltag.

 

Flucht nach innen: Stegemann konstatiert den eklatanten Wahrnehmungswandel weg von der Realtität und hin zur Befindlichkeit (siehe Trump). "Solange sich Kapital und Arbeit im Kampf um Lohn begegneten, war der Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit konkret. Der Neoliberalismus hat diesen Widerspruch verschoben. Er befindet sich nun in jedem einzelnen Menschen. Sei ganz du selbst, und zwar genau so, wie es der Markt von dir verlangt" (56f). Hierbei ist keine Sicht auf die Realitäten von Kapital, Arbeit, Kampf und Lohn mehr vorrangig. "Realisten wollen die Realität begreifen, für Moralisten aber gibt es keine Wahrheit in der Realität, sondern nur Interpretationen" (119). Deren Extrem sind Verschwörungstheorien.

 

Während also einst Denken, Dialektik und Analyse Realitätsbeschreibungen und Gesellschaftsentwicklungen ermöglichen konnten, so verkam die "Realität selbst zu einer unmoralischen Provokation" (184). Es geht heute darum, alle dazu zu bringen, so zu denken, wie man selbst. Alle sollen die gleiche Haltung übernehmen, die gleichen Werte leben. Fazit: Identitätspolitik ist gar keine Politik (91). Denn aus entgegengesetzten Parteien wurden einander ausschließende Glaubenssysteme. Aus dieser Perspektive vertritt die andere Partei keine Meinung, sondern etwas Böses" (78).

 

Man kann in den Aufregungsspiralen endlos reden, Schuldzuweisungen feiern, Versprechen simulieren usw.: "An die Stelle des politischen Streits tritt die moralische Gängelung und an die Stelle des Widerspruchs die Bevormundung. Reale Probleme sind tabu (13). Die Öffentlichkeit agiert wie eine Mischung aus Pranger, Strafgericht und Tugendwärten. So wird aus dem einschüchternden Auftreten der Moralisten eine reale Gewalt (117), durch die es in der Gesellschaft nicht mehr um Veränderung, sondern um Bestrafung geht (32). Die Folge ist Stillstand, Entropie.

 

Stegemann spricht mit seiner Schrift alle politischen Richtungen und alle Bürger an, doch widmet sie den Linken, da sie auf fatalere Weise als die Rechten in der Moralfalle sitzen. "Der Neoliberalismus hat den Kapitalismus so umgebaut, dass er die Möglichkeiten zur Solidarität zerstört hat (81). Solidarität mag es als Lippenbekenntnis der Linken geben, sie mag über Slogans auf Plakaten mitreißen wollen und in Einzelfällen den Zusammenhalt stärken, doch versagt dem Begriff zusehends seine Bedeutung. Auch die einstigen Schlachtrufe wie Klassenkampf, Arbeiterbewegung und Kapitalist haben zwar noch ihre begriffliche Kraft, doch sie werden kaum mehr genutzt, weil die Ichs - auch die politischen - vor allem Innenschau betreiben. Der Punk ist raus.

 

"Die Beschäftigung mit allen ethnischen und sexuellen Minderheiten verspricht mehr öffentliche Aufmerksamkeit als die uncoole Klasse der Armen" (15). "Damit ist linke Politik in genau die Schieflage gekommen, in die der Neoliberalismus sie bringen wollte (19). Die linke Argumentationskraft, so Stegemann, leidet darunter, dass sie sich darauf verläßt, ganz sicher auf der Seite der Guten zu sein (176). "Es wird eine Hiecharchie zwischen der moralisch richtigen Meinung und den nachgeordneten Fakten und wissenschaftlichen Erkenntnissen hergestellt" (117). Das Wir wird stärker kommuniziert als die Inhalte. "Der Beschwerdesound unserer Zeit ist der Aufschrei" (116). Dabei werden zwar öffentlichkeitswirksam Wut-Gesten lanciert, doch leider nur als Gesten. Derart genügt sich die Aktion "Aufstehen" als Kampagne.

 

Derweil wird Politik von rechts gemacht und dem Neoliberalismus alles recht gemacht. Wenn Freiheit im Neoliberalismus Flexibilität bedeutet und also eine Freiheitslüge ist (58), weil Ausbeutung als Spaß gilt, so ist es auch nicht erstaunlich, daß die Niedriglohnarbeiter bei Amazon, den Food-Liferanten etc. nicht aufbegehren. Arbeitsverhältnisse sind weltweit katastrophal, doch alle nehmen es hin. Umso fataler ist, daß es ausgerechnet der Linken nicht gelingt, die Ausgebeuteten mitzunehmen, sie im Kampfbewußtsein zu stärken: "Es gibt kein MeToo für entwürdigende Arbeitsverhältnisse" (191).

 

Solange die Linke also im seichten Wasser der einfachen Antworten mitfährt, ist wider das "Absterben der utopischen Kraft" (49) kein Umschwung in Sicht. Den Komplexitäten der Welt müßte sie sich komplex stellen und was läge näher, dafür die bewährten Kampfbegriffe wiederzubeleben und diese auch jüngeren Menschen begreiflich zu machen: Marx war genial! Die von ihm gesetzen Worte und Werkzeuge sind präzise, seine Analysen bis heute gültig. "Das Wort muss eine Faust sein, kein Zeigefinger" sagte einst Konstantin Wecker. Ist es so schwierig, das Wort, die Aussage den Kompliziertheiten der Realitäten gerecht werden zu lassen und über die Schlagkraft des Wissens und der Erkenntnis Bewußtsein ob der fatalen Wirtschaftsverhältnisse zu erwirken!?

 

Einer Bewegung muß deutlich sein, daß nicht politisches Geplänkel zählt, sondern die Erkenntis um die konkreten Zustände und deren Zusammenhänge. Mögen sie noch so kompliziert sein. Wenn Stegemann darlegt, dass in der Moralfalle "eine direkte Konfrontation der politischen Meinungen regelrecht verboten ist" (176), weil die Political Correctness Schisshasen produziert, dann heißt das nicht, daß dies nicht für breite Bevölkerungsschichten druchbrechbar ist. Die beste Waffe wider das Kapital ist Bildung.

 

Wissen ist Macht. Verschwörungstheorie aber leider auch: "Auf der rechten Seite stehen die moralischen Provokateure und auf der linken Seite die moralisch Empörten. Beide sind in innigem Hass miteinander verbunden" (189). Doch beiden Lagern (auch den Wählern der AFD) sollte es möglich sein, zu durchschauen, daß Wähler zwar Regierungen auswechseln können, aber nicht die Wirtschaftspolititk (145). Weder Migranten sind das Problem noch die Regierung, sondern der Überbau des knallhart religiös wirkenden Finanzkapitals, das sich alles einverleibt, was von Arbeitern verdient wird.

 

Es sollte den Linken gelingen können, sich einzugestehen und auch den Rechten begreiflich zu machen, daß sie "nützliche Idioten für die Interessen des Kapitals" sind (86), wenn sie banal die Wut gegen die ökonomischen Verhältnisse in eine Wut gegen die offende Gesellschaft verkehren (84). Als nachhaltig gesunde Strategie bleibt nur, Rechte und Linke seit an seit wider das Kapital zu mobilisieren.