Familie zuerst / Family First

Veröffentlicht in European Photography #100 - 2017

Fotografie und Familie – eine Beziehung mit oft heiteren und skurrilen, aber auch tragischen Facetten. Aus der Vielzahl an Neuerscheinungen zum Thema stellen wir sechs besonders gelungene vor.

 

Die Großfamilie: In Indien ist sie heilig, oft leben vier Generationen in einem Haushalt. Nora Bibel aus Deutschland porträtierte im indischen Bangalore 44 Familien in ihren Wohnzimmern. Patriarchische Feierlichkeit füllt die Räume ebenso wie gnadenloser Stolz. Ob in Baracken oder Villen, die Kinder sind sympatisch ungezwungen, es herrscht Verbundenheit, und die Wohnzimmergestaltung verrät viel über Religion und Schicht.

Bibel fand die Familien über Annoncen, doch auch Klingelputzen half. Und dann durfte sie oft sogar zum Essen bleiben. Heile Welt also? Einerseits ja, denn die Großgruppe gibt Sicherheit. Andererseits zeigt der Band Family Comes First auch den Zerfall der Großfamilie, denn Patchwork-Kleingruppen suchen mittlerweile auch in Indien ihr Glück.

Ein ebenso munterer wie mutiger Reisebericht über osteuropäische Realitäten gelang dem Schweizer Fotografen Romain Mader. Er hört von heiratswilligen Schönheiten in der Ukraine und macht sich auf den Weg: Ein Sozialthriller nimmt seinen Lauf. Schon im Flugzeug ein nettes Umarmungsbild mit Stewardess, dann nach der Ankunft staunende Blicke auf riesige Werbetafeln, auf denen Damen in Dessous der eisigen Winterlandschaft trotzen. In Parks brave Familienskulpturen aus besseren Zeiten. Schnell lernt Mader alle Frauen im Umkreis kennen. Sie sind hübsch und überaus offen für Besucher aus der Schweiz.


Mader porträtiert sie eine nach der anderen, mal zwischen Topfpflanzen, mal sexy im Sessel oder hingebungsbereit im Himmelbett, mal mit Tracht oder in Turbopumps, mal die Freitreppe nehmend oder dem Pool entsteigend. Auffällig ist ihre Ähnlichkeit zu den Werbetafelfrauen. Natürlich thematisiert Mader den osteuropäischen Heiratshandel und Sextourismus. Doch jetzt ist erst mal er dran! Es ist prächtig, wie liebevoll das Buberl aus der Schweiz die Frauen feiert. Und da sie alle Ekaterina heißen, nannte er nicht nur den Bildband so, sondern kurzerhand das ganze Land.


Er gerät in Tanzgruppen und in die Fänge wilder Femen, die ihm die Leviten lesen. Bei einer Misswahl nimmt er an den Proben teil und feiert sich mit Kamera am Bauch als Held aller anwesenden Damen. Jetzt ist er angekommen, assimiliert als Heirats- und Pornotourist, sein Image so perfekt wie das der ukrainischen Frauen und ihrer Dessouswerbung. Andere Männer gibt es im Buch übrigens nicht. Braucht es auch nicht, Mader ist der Mann aller Ekaterinas, doch mit klarem Blick aufs Happy End – jenem Tag, an dem seine Lieblingsekaterina heiratsfreudig in die Schweiz kommt. Seine Geschichte ist filmreif.

In den USA herrschen andere Sitten. Der Band Purity dokumentiert innerfamiliäre Übergangsrituale der außergewöhnlichen Art: In ländlichen Gegenden von Louisiana, Texas, Colorado und Arizona zählen „Purity Balls“ zur christlichen Tradition – Tanzveranstaltungen, bei denen Töchter ihren Vätern Keuschheitsgelübde ablegen und Väter schwören, ihre Töchter zu schützen.

 

Der schwedische Fotograf David Magnusson hatte davon gelesen und reiste an. Er porträtierte die Vater-Tocher-Paare nicht auf den Bällen, sondern arrangierte sie nahe ihrer Ranch in jener Kleidung, die sie beim Gelübde getragen hatten. Die Mädchen, zwischen 12 und 17 Jahre alt, teilweise auch jünger, kommen im Hochzeitskleidsimulat. Magnusson war es wichtig, die Paare so in Szene zu setzen, dass ihnen die Aufnahmen gefallen würden. Jetzt hängen sie daheim im Gottes- winkel oder tummeln sich auf Facebook.


Väter und Töchter wirken wie Hochzeitspaare. Die Väter umarmen ihre Töchter zart an Hand oder Schulter oder umschlingen sie in beschützend-besitzergreifender Pose, gleich einem Keuschheitsgürtel in Nabelhöhe. Bisweilen haben beide die Augen geschlossen, mal liegt des Mädchens Kopf an Papas Brust. Die Blicke sind schmachtend und sehnend nach innen gekehrt. Im Alltag würden sie sich nie so berühren. Magnusson mußte Kritik für seine Fotoserie einstecken.


Skurril wirken die Orte, an denen der Fotograf die Paare platzierte: vor einer Ölpumpe, neben Riesenkakteen in der Steppe, unter einem gigantischen Autobahnverteiler, vor wehender US-Flagge, im Tangoschritt auf einer Kleinstadtstraße oder unweit eines Traktors auf ungepflügtem Acker.
Neben der beklemmend, auch schüchtern wirkenden Innigkeit berührt vor allem der  sorgenvolle wie entschlossene Ausdruck der väterlichen Gesichter, denen anzusehen ist, dass sie es mit der Reinheit ihrer Töchter ernst meinen. Wie ambivalent die Realität tatsächlich ist, zeigen die den Bildern beigefügten Texte: Da gestehen Väter ihre Untaten der Vergangenheit und Mädchen deuten gottlose Verlockungen an. Die Idealisierung von Keuschheit und Sicherheit, sie wirkt in der Wüstenlandschaft seltsam hilflos und verloren.

Einige Autostunden entfernt lebt Jessica Todd Harper. Sie hat eine tolle Familie. Das Ambiente der Kinderaufzucht ist biedermeierlich rustikal. Wertvolle Möbel, obere Mittelschicht. Opa ist da, dann stirbt er. Und die gut behüteten Kinder wechseln wieder vom Schaukelpferdchen zum Sofa und zurück in die Arme elterlicher Obhut.


Hier herrscht heile Welt. Mit dem Titel The Home Stage („Familienbühne“) kündigt die Fotografin ein Schauspiel an. Sie inszeniert ihre Famile im Stil bürgerlicher, romantischer Ideale, sie zelebriert Innigkeit und Innerlichkeit als Ausdruck familiärer Normalität. Ihr Zeuge ist das Licht: Der durch die Fenster einfallende Schein kommt wie durch Kirchenfenster und verwandelt die Familienmitglieder zu Ikonen.


Harper zeigt die letzte Familie klassischer Art, Familie als Museum. Nur wenige Aufnahmen spielen außerhalb des Hauses. Ein Bild im Garten mit Monsterpudel und einem Baby in langem weißen Kleid in Mutters Arm könnte einem Gruselfilm entstammen. Schnell zurück ins sichere Haus!

 

Ganz anders bei Alain Laboile: Seine Kinder sind meist splitternackt, sie springen durch Pfützen, machen Radau und stecken dem Frosch schon mal den Finger ins Maul. In diesem Woodstock für Knirpse ist Schmutz nichts Schlimmes, Scham unbekannt und die Naturerfahrung ganz unmittelbar. Die armen Kinder, mag einer rufen, so wild und unfrisiert!


Wir sind zu Besuch in der ländlichen Idylle bei Bordeaux, Frankreich. Alain war Bildhauer und entwickelte eine Leidenschaft für Insektenfotografie. Vermutlich sprang da eins seiner sechs Kindern zwischen den Grashüpfern durch die Wiese: Erfrischendes Kinderglück! Laboile nutzt die Natur als Fotostudio.


Er zeigt die Kleinen so prompt und energiegeladen, dass die Frage nach antiautoritärer Erziehung gar nicht erst aufkommen kann: Die Kinder sind, wie sie sind, sie spielen und erleben tolle Abenteuer – Trapezspiel in der Küche, Baden im Bach, Tanzen auf dem Tisch und immer wieder die feuchte Erde erspüren. Überall Katzen. Sogar ein junges Reh.


Der Titel At the Edge of the World zeigt, dass sich die Eltern des familiären Ausnahmezustands bewußt sind. Laboile fängt die kindlichen Ekstasen in wunderbarem Schwarzweiß ein und bettet sie in fantasiegeladene Arrangements. Er ist, einem Waldgeist gleich, ein Kreator sagenhafter Erzählungen. Sein Band ist eine Explosion der Lebensfreude und eine Verneigung vor den Urkräften der Natur.

 

Die Lage ist anders, wenn die Familie den Tücken der Natur ins Messer läuft. Im Band Sharon folgt der amerikanische Fotograf Leon Borensztein dem therapeutischen Druck extremer Krisenbewältigung.

Im Jahr 1984 kam seine Tochter zur Welt. Bald zeigte sich: Sie ist fast blind und ihre Motorik unterentwickelt. Später kamen Autismus, Epilepsie und Sprachstörungen dazu. Sharon war bedingt lebensfähig und die Kämpfe um die Gesundheit seiner Tochter wurden zu Borenszteins Lebenswerk. Er stellte seine Karriere als Fotograf zurück, um seiner geliebten Tochter zu helfen. Dreißig Jahre lang.

Seit ihrer Geburt fotografierte er Sharon. Wie sie beginnt, zu blicken, zu lächeln, versucht, sich zu orientieren. Immer wieder hat sie Elektroden am Kopf. Spät gelingt es ihr zu gehen, sie entwickelt sich zu einer schönen jungen Frau, malt, kann irgendwie interagieren. Sharon ist zwölf Jahre alt, da verläßt die Mutter, von der Situation überfordert und von Alkohol und Drogen gezeichnet, die Familie. Sharons Schicksal und die Last ihrer Betreuung liegt nun vollständig in den Händen des Vaters.


Sharons Leiden aber lassen nicht nach, im Gegenteil. Bisweilen geht sie aggressiv auf den Vater los. Zusehends ist er seelisch und körperlich am Ende, irgendwann kann er nicht mehr, es bleibt ihm nur, Sharon in ein Pflegeheim zu geben. Nur ab und zu sieht er sie noch.


Der Bildband gelang Borensztein durch Crowdfunding. Die Entwicklung des Buches war ein weiterer Kampf: Die Rekapitulation der Jahrzehnte zeigt, wie schwer es dem Vater gewesen sein muss, sich von seiner Tochter zu trennen. Er hinterläßt ein beklemmendes Manifest der Liebe und Menschlichkeit, das auf beängstigende Weise illustriert, dass Familienglück keine Selbstverständlichkeit ist.