UNBEHAGEN

Das Buch UNBEHAGEN von Armin Nassehi
und die zur „Kenntlichkeit entstellte Gesellschaft“

Unbehagen war mal ein Album von Nina Hagen. Der Begriff avancierte leider zu einer trefflichen Selbstbeschreibung für allerlei Gesellschaftsbefindlichkeiten. Armin Nassehi ermittelt in seinem Buch den Verlust des Behagens als den Verlust einer ganz wesentlichen gesellschaftlichen Immunabwehr zugunsten gemeinschaftlichen Handelns: Man muss weder alles wissen noch alles bezweifeln, um zusammen weiterkommen zu können.

Wenn aber, wie heute, „nichts vor Dekonstruktion sicher“ ist, wird das Handeln haltlos. Nassehi gilt die Latenz, also das Verborgene, das Unangesprochene, das Ausgeblendete als ein gesunder Schutz für einen klaren Kopf. Die postmoderne Kultur dagegen zelebriert das einst voraussetzungslos Gültige als generell kritikwürdig. Was dabei verloren geht, ist Latenz als Schutzmechanismus für die Sicherung von Bedeutung. Der Verlust des Schutzes bedrohe sogar den Verlust der Kultur als Geborgenheit für alle. Sie kann nicht mehr als „unter einem Himmel“ wahrgenommen werden. Das Unbehagen ist also, zudem Gott lange tot ist, ein pathologischer Kropf der Aufklärung, die postmodern vom Weg des gemeinsamen Himmels abkam.

Ausgerechnet dem Konsum konstatiert Nassehi Latenzschutz! Wie fatal, doch wie wahr: Konsum wird heute kaum hinterfragt, Konzerne werden kaum kritisiert, das Kapital steht viel zu wenig in der Kritik. Die postmoderne Zersplitterung hat nahezu alle gesellschaftlichen Verbindlichkeiten in die Luft gejagt und gegenwärtig hetzt sie auch sogar die Subkulturen aufeinander los. Nur der Konsum gilt als das quasi einzig noch gültige Dogma wie eine letzte Versprechung. Auch die Popkultur entlaste von Reflexion. Konsum sei eine latenzstarke Versöhnung mit der Komplexität der Welt.

Nassehi fährt keine Kapitalismuskritik auf. Als Soziologe mit systemtheoretischer Wahrnehmungsleidenschaft durchleuchtet er vielmehr die durchschaute Welt als eine unsichere Welt. Entzauberung führe keineswegs zu Sicherheit und das Fragilste an der Moderne sei der Latenzschutz: Die Welt ist zur Kenntlichkeit entstellt. Wir sitzen in der Falle, immer weniger hat Gültigkeit, die Werte zerbröseln.

Die Gesellschaft biete eine dauernde Quelle der Konfusion zwischen Gestaltbarkeit und musterhafter Stabilität, zwischen gut begründeter Kritik und einem geradezu stupenden Eigensinn, der das Handeln blockiert. Die diesem Unbehagen folgende „Überforderung“ resultiert in der Tatsache, dass Gesellschaft gerne mit Organisation verwechselt wird. Doch sie ist keine Firma mit definitiven Festschreibungen. Organisationen können autokratisch „die Form der Entscheidung im Dunkeln lassen“, sie also latent halten, sie können auch Paradoxien unsichtbar machen. Aber: „Es gehört zu den Erfahrungen von Organisationen, dass sie zwar sich selbst organisieren können, aber gerade nicht das, worum es geht“, das, was auch außerhalb der Firma Streitpunkt ist.

Wir sind in den funktional differenzierten Gesellschaften in einer Art Raumschiff, in dem man vergaß, wie die Steuerung funktioniert. „Es gelingt nicht, trotz allen Wissens das ins Werk zu setzen, was der Handelnde sich vornimmt“. Die Gesellschaft könne ohnehin nicht wie aus einem Guss reagieren. Das Scheitern erscheine dann als kollektive Verantwortungslosigkeit, als Fehlen von Solidarität und als Verlust von Zusammenhalt.

Nessehi empfiehlt Expertise statt Identitätspolitik, konsumkompatible Leidenschaft statt Trübsal und Pragmatik mit Latenz statt Konsens, der selten erfolgt und dann Entscheidungen vertagt. „Handle so, dass Dein Gegenüber anschließen kann, gerade weil Du das nicht kontrollieren kannst“. Werde operabel!

Der aktuell gängige selbstreferenzielle Krisenmodus also ist nicht geeignet, um Krisen zu meistern. Es sind zwischen Evolution und Revolution ein paar Lockerungsübungen vonnöten, „Entscheidungsroutinen im Umgang mit Komplexität“ zu finden. Zur Lockerung also vielleicht erst mal Unbehagen von Nina Hagen auflegen! Und ganz laut aufdrehen, so dass es alle Nachbarn hören! Da kann sich zeigen, dass das Miteinander ein kräftestärkendes Vergnügen ist, das die Latenzangst beseitigt. Sogar die Schlechtgelaunten zieht es womöglich auf die Tanzflächen des gesellschaftlichen Tuns.