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Harald Welzer - Die smarte Diktatur - S. Fischer Verlag - 320 Seiten
Endlich haut mal jemand richtig auf den Tisch. Harald Welzer kann es nicht mehr ertragen, dass unter dem Deckmantel der frohen Digitalisierung in Jahrhunderten erkämpfte Freiheiten mal eben
an die Wand gefahren werden. Der immer räuberischere Kapitalismus zersetzt nun die letzten, bislang nicht kollektiv verwertbaren Daseinsformen: die auf Solidariät bedachten Sozialsysteme und die
Unabhängigkeit des Denkens.
Vorbild China: Die Modernisierung von Staat und Gesellschaft bleibt dort aus, weil alleine der Markt regiert. Schwellen- und Entwicklungsländer überspringen Demokratie und Zivilgesellschaft, denn
der Kapitalismus funktioniert auch ohne. Diese "Modernisierung ohne Moderne" nun infiziert auch die westlichen Demokratien. Ihre Humanitätspotenziale werden gen Stagnation hin geschrumpft. Im
Gegenzug sichern sich priviligierte Gruppen, Konzerne und Despoten erfolgreich Privilegien.
Gesellschaftliche Visionen gibt es aktuell kaum. Was boomt, ist die digitale Wirtschaft. Welzer hält die neue Elite des Silicon Valley für soziale Volltrottel, die der Menschheit erfolgreich
vorgaukeln, Wichtiges zu schaffen, vor allem aber finanziellen Eigennutz und Macht im Visier haben: Alphabet (Google) löst Probleme, die überflüssig sind. Die zentralen globalen Probleme dagegen
lassen sich nicht durch Digitalisierung, sondern nur politisch lösen.
Weite Teile der Menschheit aber folgen den digitalen Lemmingen begeistert: Die Selbstoptimierung dank Kontrolle und die Kontrolle aller Lebensbereiche wird vielversprechend gepriesen, doch
ist eine soziale Monokultur, in der die höchste Stufe der Dressur die Personalisierung durch normierende Datenerhebung ist. Dabei landet man in der Spiegelhölle des Immerselben. Das Unerwartete
und Überraschende bleibt - man höre die Oldies beim Dudelfunk - strukurell außen vor und Harald Welzer fragt zurecht, wie in eine solch entropisch verseuchte Welt jemals wieder etwas Neues kommen
kann und wie die eingenormten Konditionierungen des bescheidenen Tellerrands wieder überschritten werden können.
Die Unterspülung von Selbstwahrnehmung, Demokratie und Zivilgesellschaft verläuft weitgehend unbemerkt in jenen Momenten, in denen User - und nicht Bürger! - an Smartphones und Tablets
herumfummeln und dadurch exakt jene Hörigkeit installieren, der das freie Denken geopfert wird. Es ist nahe liegend, dass Welzer fordert, die Dinger wegzuwerfen.
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