1990 sorgte der kleine, bei Merve erschienene Band "Das Jahr 2000 findet nicht statt" des Mediensoziologen Jean Baudrillard für Aufsehen. - Habs nochmal durchgeblättert.
Mit den Gezeiten von Glasnost, Internet und Echtzeitmedien verpuffte Geschichte in ihrer körperlichen Wirkung und implodierte in der reinen Aktualität des Medialen (vgl. S. 13). Intellektuelle Strukturen verschwanden auch dank der Wissenschaft in Archiven (24) und der Westen wurde zur Deponie für Freiheit (30), in der als Simulation ihrer selbst alles in einer weltweiten entropischen Zirkulation zerschleudert wird (40f): Das Jahr 2000 wird nicht stattfinden, weil die Krümmung der Geschichte so sehr in die entgegengesetzte Richtung zurückgewendet sein wird, daß sie den Zeithorizont 2000 niemals überschreiten wird (37).
Der Intellekt des Westens also konnte die Jahrtausendwende nicht erreichen, da er das Recyclen von Geschichte und Aktualität als "Konsens-Epidemie" (6o) ohne Ausblick betrieb und den Aufschreibesystemen nichts Emergentes entlockte - zum Beispiel direkte politische Gestaltung. Wenn Baudrillard betont, "nie mehr werden wir wissen, was all die Dinge waren, bevor sie in ihrem vollendeten Modell aufgingen" (18) und die derzeitigen Generationen das Modelldreieck von Demokratie, Konsum und Kommunikation nicht neu aufstellen, dann hat der Bürger keine Zukunft.
Das Modell ist heute im Internet genial perfektioniert. Die Machtstrukturen aber wurden quasi aus dem Mittelalter übernommen: Kontrolle und Profit laufen über Konzerne, wohingegen der Bürger (heute User) nur im Simulakrum seiner Freiheit glücklich werden kann. Die "Bereinigung unserer Gedächtnisse von allen negativen Ereignissen", das "Weißwaschen" (44) wird heute von Suchmaschinen und Tools erledigt.
Um also - leicht verspätet - im neuen Jahrtausend anzukommen, sei Baudrillards Ausweg empfohlen, die Abkürzung zu nehmen und das Ende der Geschichte zu überspringen, anstatt weiterhin den Leichnam der Geschichte (z.b. durch Datenerfassung) zu obduzieren (45f). Soll dies nun aber tatsächlich als emergenter Schritt mit neuartigen gesellschaftlichen Strukturen geschehen, kann dies nur unabhängig von Macht und Staat und jenseits von Kontrolle und Tools durch mit sich selbst online verhandelnde Bürgern erfolgen.
Das ist nicht neu, aber wesentlich.
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